5. Die Neurofunktionelle Reorganisation

Das Konzept der Neurofunktionellen Reorganisation nach PADOVAN orientiert sich an der in Kapitel 4.2 beschriebenen Neurologischen Organisation, welche sämtliche Wahrnehmungs- und Bewegungskompetenzen, die zu einer gesunden Entwicklung und Reifung des Menschen führen, möglich macht. Es gehören dazu genetisch determinierte Bewegungsmuster vom Rollen über das Kriechen und Krabbeln bis hin zum aufrechten Gehen, die alle in enger Relation zur Sprachentwicklung stehen (Kapitel 4.1, 4.2, 4.3).
Eine weitere Grundlage für korrekte Sprechbewegungen und somit des deutlich artikulierten Sprechens sind sogenannte vegetativ-reflexe Funktionen wie Atmen, Saugen, Abbeißen, Kauen und Schlucken (unwillkürlich und reflektorisch ablaufende, physiologische Vorgänge).

Folglich besteht die Neurofunktionelle Reorganisation aus diesen beiden Bereichen:


5.1 Wesentliche Aspekte, Ziele und Bedingungen der Therapie

PADOVANs Methode hat das Anliegen, diejenigen Mängel oder Versäumnisse, welche im Verlaufe der Entwicklung und der Neurologischen Organisation aus mehr oder noch minder bekannten Ursachenkomplexen auftraten, auszugleichen (vgl. PADOVAN 1997, S. 37) bzw. die noch unvollständig oder fehlerhaft gebliebenen Fähigkeiten eines Menschen funktionell wiederzugewinnen, zu entwickeln oder gegebenenfalls zu verbessern (vgl. 1999, S. 3; V. TREUENFELS 1998, S. 148).
Das Gehirn bekommt sozusagen eine zweite Chance, Entwicklungsstufen zu durchlaufen, die zuvor ausgelassen oder nur unzureichend erfüllt wurden, um nun die „neurale Uhr richtig zu stellen“ (GODDARD 1998, S. 130).

Dies geschieht durch Körper- und  myofunktionelle Übungen, welche im folgenden für und aus der praktischen Anwendung heraus anschaulich erklärt werden.

Sieht man Sprache und Sprechen in ihrem ganzheitlichen Rahmen, wie ich ihn in den vorherigen Kapiteln dieser Arbeit dargestellt habe, erkennt man, daß die Neurofunktionelle Reorganisation eine ideale Behandlung bei Sprachentwicklungs-verzögerungen und -störungen bietet.

Die Körper- wie auch die Übungen des myotherapeutischen Trainings werden von rhythmusgebenden auditiven Stimuli in Form von gesprochenen oder gesungenen Versen begleitet, die größtenteils von den Patienten mitgesprochen werden sollen.
Diese Komponente birgt folgende Vorteile:
Reime beeinflussen den Rhythmus der Übungen günstig und stabilisieren sie gleichzeitig auf natürliche Art. PADOVAN hat herausgefunden, daß „Die Muskeln [...] besser [reagieren], wenn die Kontraktionen und Entspannungen auf rhythmische Weise erfolgen“ (1979, S. 27). Für Patienten mit Dyslalien (siehe Kapitel 7.1) haben sich im speziellen Stabreime bewährt, welche die fehlerhaft gesprochene Laute enthalten, weil sie das Erlernen der korrekten Aussprache besonders gut anregen. Darüber hinaus finden die meisten Patienten Gefallen an der Reimbegleitung der Übungen, was im Therapieverlauf den günstigen Nebeneffekt der Kurzweil mit sich bringt.

Die Therapiematerialien sind von PADOVAN so weit wie möglich dem alltäglichen Gebrauch entnommen, da diese erstens für jedermann erschwinglich sind und zweitens in der Regel einen unverkrampfteren Umgang mit sich bringen, weil ihnen kein klinischer Charakter anhaftet.

Therapieplanung und -verlauf sind in ihrer Reihenfolge festgelegt, wobei sich die Therapeutin in Hinblick auf die Geschwindigkeit sowohl der Hinzunahme neuer Übungen als auch deren Durchführung, immer nach dem jeweiligen Alter, Entwicklungsstand und Befinden des einzelnen Patienten richten soll.

Bezüglich der Diagnostik empfiehlt PADOVAN zusätzlich zu einer umfassenden,  ganzheitlichen Eingangsdiagnostik nach sechs Monaten Therapie eine erneute Diagnose zu erstellen, da manche augenscheinlich zunächst versteckte Mängel in der Entwicklung  häufig erst nach einer gewissen Zeit auffällig werden, in der die Therapeutin den Patienten genauer kennenlernen und beobachten konnte (vgl. 1999, S. 10). Genaueres dazu in der Diplomarbeit!

PADOVAN empfiehlt für die optimale Durchführung der Therapie zwei Einheiten von vierzig Minuten pro Woche, die der Kontrolle, dem angemessenen Fortschreiten in der Reihenfolge der Übungen, dem Gespräch mit dem Patienten und der Demonstration der Übungen gegenüber der Begleitperson dienen (vgl. 1999, S. 9).

Eine ebenfalls optimale Therapievoraussetzung wäre PADOVANs Meinung nach ein Stab von bis zu vier behandelnden Therapeutinnen bzw. Helferinnen für die Körperübungen – jeweils für das Bewegen des Kopfes, jeden Armes und der Beine (vgl. 1999, S. 8). Diese Forderung ist jedoch im Therapiealltag in sprachtherapeutischen Praxen so gut wie utopisch. Die Erfahrung hat gezeigt, daß sämtliche Übungen ebenfalls ausreichend effektiv von einer Therapeutin und einer Helferin / Begleitperson bzw. teils sogar von nur einer Therapeutin allein durchführbar sind.

Die Mitarbeit der Familie bzw. des engeren persönlichen Umfeldes des Patienten stellt eine unverzichtbare Größe in PADOVANs Behandlungskonzept dar. Zumindest eine Person sollte den Patienten dauerhaft zu den Therapiesitzungen begleiten, mitarbeiten und die gezeigten Übungen günstigstenfalls täglich einmal zuhause mit ihm durchführen. Das häusliche Training ist Bestandteil der Therapie! Auf eine Begleitperson kann im Falle eines erwachsenen Patienten verzichtet werden, sofern dieser es wünscht und imstande ist, alle Übungen selbständig und gewissenhaft im häuslichen Training zu vollführen.
Die Mitarbeit des näheren sozialen Umfeldes beinhaltet zudem die Möglichkeit, die Position des Patienten und die Sichtweise der Störung innerhalb dieser Strukturen positiv zu verändern.
Vor Beginn der Therapie sollte sich die Therapeutin krankengymnastische Informationen und gegebenenfalls Vorschläge zur Optimierung der Übungen für eventuell bestehende Beeinträchtigungen einholen.

Körper- und myofunktionelle Übungen werden nicht nacheinander, sondern ihrem Niveau entsprechend parallel gelehrt.

Die nebenstehende Tabelle gibt einen chronologischen Überblick der jeweiligen Übungen:
 

Neurologische Reorganisation 
(Körperübungen)
Reorganisation vegetativ-reflexer Funktionen (myofunktionelle Übungen)
  • Beinflexion in Rückenlage geführt
  • Beinrotation in Rückenlage geführt
  • „Schmetterling“ in Bauchlage homolateral geführt
  • „Schmetterling“ in Bauchlage heterolateral geführt
  • Homolaterale Standardisierung in Bauchlage
  • Heterolaterale Standardisierung in Bauchlage
  • Rollen mit gestrecktem Körper
  • Kriechen
  • Robben
  • Krabbeln
  • Bärengang
  • Aufrichten (Hocke – Stand)
  • Marschieren; später Hüpfen
  • evtl. zusätzliche Übungen zur Auge-Hand-Koordination 
    • Atemübungen

     
    • Saugübungen

     
    • Lippen- und Zungenübungen

     
    • Kauübungen

     
    • Schluckübungen
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