5.3    Die Reorganisation vegetativ-reflexer Funktionen

Den zweiten großen Übungskomplex der PADOVAN-Methode stellt das myotherapeutische Training dar, das der Reorganisation der vegetativ-reflexen Funktionen (Atmung, Kauen, Saugen, Schlucken) dient.
Es handelt sich auch hierbei um eine funktionelle Methode, welche sich damit beschäftigt, am Schluckvorgang beteiligte Muskelgruppen vorzubereiten und in Hinblick auf die physiologische Schluckfunktion zu entwickeln.

Die Kenntnis der bereits in Kapitel 4.2 erläuterten neurologischen und morphologischen Entwicklungen während der Phylogenese, welche Sprachentwicklung und -performanz erst ermöglichten, ist für deren umfassendes Verstehen und für die Gestaltung einer Behandlungsmethode für Sprech- und Sprachstörungen von grundlegender Bedeutung (vgl. GUNDERMANN 1989, S. 52).

Die bereits genannten vegatativ-reflexen Funktionen werden deshalb auch als prä-linguistisch bezeichnet.

PADOVAN bezieht sich auf eine Arbeit des französischen Stomatologen CAUHÉPÉ1 aus dem Jahre 1960, in welcher herausgestellt wird, daß die Mechanismen der konsonantischen Sprachbildung mit denen des physiologischen Schluckvorgangs identisch sind:

... d.h. dieselben Punkte, die von der Zunge während des Schluckens berührt werden, sind auch die Berührungspunkte (Artikulationspunkte) bei der Lautbildung. 1979, S. 25
Darüber hinaus beruft sie sich auf CAUHÉPÉs Feststellung, nach der das Atmen, das Saugen, das Kauen, das Schlucken, die Gesichtsmimik, die Morphogenese der Zahnbögen und die Sprache von einunddemselben neuromuskulären System gesteuert werden und in Wechselbeziehung zueinander stehen (vgl. PADOVAN 1979, S. 25).

Als konsequentes Ergebnis und unter Berücksichtigung aller oben genannten Erkenntnisse entwickelte PADOVAN Übungen zur Reorganisation der prä-linguistischen Funktionen.

Prinzipiell ähnelt es einigen anderen bereits existierenden MFT-Konzepten, z.B. der „Myofunktionellen Therapie“ nach GARLINER oder der „Orofazialen Muskelfunktionstherapie“ nach CLAUSNITZER/CLAUSNITZER/THIELE).

PADOVAN hat das ihre jedoch um einen entscheidenden neuen Aspekt erweitert: Alle korrelierenden Bestandteile des von CAUHÉPÉ genannten Funktionskreises werden in die Behandlung einbezogen – und zwar unabhängig davon, ob pathologische Abweichungen sichtbar sind oder nicht!

Wenn eine Funktion nicht der Norm entspricht, ist es sehr wahrscheinlich, daß entsprechende pathologische Abweichungen bei den Funktionen anzutreffen sind, die mit denselben Muskeln und durch dieselben Nervenimpulse verbunden sind. (PADOVAN 1979, S. 20)
PADOVAN selbst beschreibt ihr Vorgehen deshalb als „integrierende funktionelle Myotherapie“ (1979, S. 26).

Die dahinterstehende grundsätzliche Überzeugung der Ganzheitlichkeit und der wechselseitigen Abhängigkeit zusammenhängender Funktionen zieht sich also auch hier wie ein roter Faden durch PADOVANs Methode (siehe dazu Kapitel 5.1).

Alle Teile eines Funktionskreises sind in unterschiedlicher Gewichtung von einer Abweichung mitbetroffen und müssen daher in Hinblick auf eine vollständige Reorganisation mitbehandelt werden.

Weitere Neuerungen finden sich bezüglich des Therapiematerials, welches soweit wie möglich aus alltäglichen Gegenständen besteht oder ihnen nachempfunden ist.
Dazu gehören die Einführung eines orthodontischen Saugers, dessen Saugfläche größer und breiter ist als die eines herkömmlichen Schnullers für Kleinkinder. Der große Vorteil dieses Saugers gegenüber anderen üblichen therapeutischen Saug-Hilfsmitteln (wie zum Beispiel Strohhalme, durch die ein Glas mit Flüssigkeit geleert werden soll) ist, Saugbewegungen so lange wie erforderlich andauern zu lassen, ohne daß – um auf obiges Beispiel einzugehen – die Übung durch das gegebenenfalls zu rasche Leeren des Glases unterbrochen wird. Der Erfinder des orthodontischen Saugers ist übrigens der deutsche Kieferorthopäde Prof. Dr. Dr. BALTERS, einer der ersten seiner Zunft, der Zahn- und Kieferstellungsanomalien  ganzheitlich erfaßte und in dessen Behandlungsmethode erstmals Ganzkörpergymnastik und Atemübungen, sowie die Beachtung und Einbeziehung psychischer Komponenten ihren Platz fanden (vgl. CLAUSNITZER 1992, S. 7 f).
Darüber hinaus enthält PADOVANs myotherapeutisches Konzept die Anwendung eines Gummibeißringes oder -schlauches für die Kauübungen, die vielfältige Verwendung kleiner Oblatenstückchen und orthodontischer Gummiringe (von ca. 1 cm Durchmesser). Letztere werden besonders für Übungen zur propriozeptiven Wahrnehmung der Zunge eingesetzt.

Ich setze Kenntnisse über die Anatomie, Physiologie und Funktionen des orofazialen Systems, sowie deren Abweichungen, Entstehungsbedingungen und die Zusammenhänge zwischen oralen Dysfunktionen, Dysgnathien und Artikulationsstörungen voraus.

Dieser Überblick zeigt die reflektorisch-vegetativen Funktionen und ihre zugehörigen Abweichungen:
 

Atmen
->
habituelle Mundatmung
Saugen
->
Schnullern, am Daumen lutschen
Kauen
->
Onychophagie (Nägelkauen)
Bruxismus (Zähneknirschen)
Schlucken
->
unphysiologisches Schluckmuster (Schluckfehlfunktion)
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1: Étude experimentale de la musculature et la position des dents. Acta Stomatologica Belgica, S. 585-591

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