4. Die vier Säulen der Padovan-Methode (theoretische Grundlagen)

PADOVAN stützt ihre Überlegungen und Erkenntnisse bezüglich ihrer Methode der Neurofunktionellen Reorganisation auf die folgenden vier Säulen, welche im Anschluß eingehender dargestellt werden:

1.     Die natürliche Entwicklung des Menschen

2.     Der Beitrag der Phylo- und Ontogenese zur Neurologischen Organisation des Menschen (basierend auf M.D. TEMPLE FAY und Carl H.
        DELACATO)

3.     Die wechselseitige Abhängigkeit von Gehen, Sprechen und Denken (in Anlehnung an Rudolf STEINER)

4.     Der Bereich der Neurologie, insbesondere die Nutzbarkeit neuroplastischer Prozesse für therapeutische Zwecke (nach Nelson ANNUNCIATO)
 

4.1 Die natürliche Entwicklung des Menschen

Während seiner Entwicklung und dem Reifungsprozeß des Zentralnervensystems (ZNS) erwirbt das Kind sämtliche Eigenschaften, die zu seinem angelegten und typisch menschlichem Programm gehören werden (vgl. PADOVAN 1997): sensomotorische, als auch kognitive Fähigkeiten und Funktionen, Lernfähigkeit, sowie Kommunikation und Sprache werden gleichzeitig, also parallel, erworben, gleichwohl sie erst nacheinander bemerkbar werden.

Die Bewegungsfähigkeit des Menschen ist nicht erst ab dem Zeitpunkt seiner Geburt, sondern schon während seiner Embryonalentwicklung vorhanden (vgl. BLECHSCHMIDT 1989; KÖNIG 1981, S. 12) und von der Mutter ab dem Ende des zweiten Schwangerschaftsmonats spürbar. Nach BLECHSCHMIDT haben „...alle Verhaltensweisen ... embryonale Entwicklungsvorgänge als Voraussetzung nachweisen lassen.“ (1989, S. 154).
Er bezieht sich vor allem auf Reflexe, aber auch auf das Sich-Aufrichten1, welches als „das Bemühen, unter veränderten Umständen beizubehalten, was schon seit der dritten Embryonalwoche beim ersten Aufrichten  mit typisch menschlicher Eigenart vorentwickelt ist“ (BLECHSCHMIDT 1989, S. 154) beschrieben wird.

Wesentliche Vorbedingung für die Ausbildung von Spracherwerbsprozessen sind die Funktionsfähigkeit der Sinnesorgane und des sprechmotorischen Apparates sowie die fortschreitende postnatale Entwicklung des Zentralnervensystems und der Lateralisation.  GROHNFELDT 1993, S. 25
Die statisch-motorische und sensorische, wie auch die Sprachentwicklung gehen mit der Reifung des ZNS einher und werden durch genetische Programme sowie epigenetische Faktoren, also periphere Reize und soziokulturell beeinflußte Umwelterfahrungen, bestimmt. Letztere werden vom Gehirn als einem „Organ der Integration und Koordination“ (FLEHMIG 1996, S. 9) mit automatisch ablaufenden komplexen Reaktionen beantwortet.

Der Ablauf des menschlichen Entwicklungsprozesses ist zeitlich und in seiner Reihenfolge festgelegt, keine Entwicklungsstufe ist ohne die vorhergehende erreichbar.

Da der Mensch relativ zu früh geboren wird – PORTMANN bezeichnet ihn als „sekundären Nesthocker“ (zitiert in KÖNIG 1981, S. 12) – benötigen weniger überlebenswichtige Systeme (Motorik, Statik, Sprache) für die Anpassung an die Gegebenheiten der Umwelt längere Zeit, in welcher sie der ständigen Selbstregulation unterworfen sind (vgl. FLEHMIG 1996, S. 10 f). Im Gegensatz zu den lebenswichtigen Systemen (Herzschlag, Kreislauf, Atmung usw.), welche sofort nach der Geburt funktionieren müssen.

So wie es in jedem Stadium der Embryonalentwicklung zu Schädigungen kommen kann,  kann auch die Reifung des ZNS und damit einhergehend das gesamte Entwicklungssystem durch die vielfältigsten Störungen unausgeglichen ablaufen (vgl. FLEHMIG 1996, S. 10; GSCHWEND 1998, S. 1).
Zum Zeitpunkt der Geburt ist das Kind mit einer Vielzahl von frühkindlichen Reflexen ausgestattet, bei denen es sich um automatische, stereotype Bewegungen handelt, die vom Hirnstamm ohne Beteiligung der Hirnrinde ausgeführt werden. Sie stellen in den ersten Lebenswochen eine Grundlage für das Überleben des Babys dar. Danach

...sollten sie durch höhere Zentren des Gehirns gehemmt oder kontrolliert werden. Dadurch wird die Entwicklung höher entwickelter Nervenstrukturen ermöglicht, die dem Kleinkind dann die Kontrolle über willentliche Reaktionen ermöglichen. GODDARD 1998, S. 15


Die Hemmung eines solchen Reflexes steht also häufig in Verbindung mit der Entwicklung einer neuen Fähigkeit. Überdauern diese frühkindlichen Reflexe jedoch, werden sie als abweichend und als Indiz für eine strukturelle Schwäche oder Unterentwicklung des ZNS eingestuft (vgl. GODDARD ebd.).

PADOVAN erwähnt diesen Zusammenhang nur am Rande (1979, S. 32); es erscheint mir jedoch äußerst sinnvoll und hilfreich, persistierende frühkindliche Reflexe als Kriterium zur Beurteilung des kindlichen Entwicklungsverlaufes heranzuziehen, da sie Aufschlüsse bezüglich der Reifung des ZNS geben und gleichzeitig mögliche Ursachenindizien hinsichtlich neurophysiologischer Entwicklungsverzögerungen darstellen können (vgl. GODDARD 1998, S. 16 f).

Laut PADOVAN beendet das menschliche ZNS seinen Reifungsprozeß im Alter von ca. sieben Jahren (vgl. 1982, S. 12; 1999, S. 3).

Um den äußerst komplexen Themenbereich der menschlichen Entwicklung so umfassend wie möglich und so kompakt wie nötig darstellen zu können, findet sich in der Diplomarbeit ein tabellarischer Überblick über die normalverlaufende Entwicklung bis zum Alter von sieben Jahren, welchen ich anhand von Angaben der Autoren CLAHSEN (1986), DELACATO (1966), FLEHMIG (1996), FRANKE (1991), GODDARD (1998), GSCHWENDT (1998), HANSEN (1996), KÖNIG (1981), MILLNER (1996), PADOVAN (1999) und PIAGET (1992) zusammengestellt habe.

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1  Die Faltung der Entcocystscheibe läßt einen vergleichsweise großen und breiten obenliegenden frühembryonalen Kopfteil vom Halsteil und dem noch winzigeren, untenliegenden Rumpfteil unterscheiden. Mit dem Kopfteil geht der Embryo in der Entwicklung voran, womit sich schon in dieser frühen Phase die Dominanz des oberen Körperteils zeigt (vgl. BLECHSCHMIDT 1989, S. 73 ff).

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